Die Rede Friedrich Guldas anlässlich der Verleihung des Beethovenringes

Fenster schließen


Sehr geehrter Präsident, geschätztes Komitee, meine Damen und Herren, liebe musikalische Jugend! 

Vor einigen Wochen erhielt ich die schriftliche Mitteilung des Komitees des „Internationalen Beethoven- Wettbewerbs“ der Staatsakademie Wien, dass ich anlässlich der Schlussveranstaltung des Bewerbes mit dem Beethovenring ausgezeichnet werden sollte. Dieses Schreiben löste bei mir sofort eine Art Gewissenskonflikt aus. Der Grund, warum ich mich schließlich entschlossen habe, hierher zu kommen, ist, die Gelegenheit wahrzunehmen, Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, vor allem aber der hier versammelten musikstudentischen Jugend, einige Gedankengänge zu erklären, die mich in diesem Zusammenhang besonders bewegen.

Ich halte nämlich ein so durch und durch konservatives Institut wie die Wiener Staatsakademie eigentlich nicht für berechtigt, eine Auszeichnung zu vergeben, die den Namen eines der größten Revolutionäre der Musikgeschichte trägt. Erzieht die Staatsakademie Euch, ihre Studenten, zu wahren Nachfolgern des musikalischen Rebellen und Neuerers Beethoven? Sicher nicht; sie leitet Euch im Gegenteil zu zahmem Nachbeten an. Die Botschaft Beethovens an Euch aber lautet: „Ich war ein musikalischer Revolutionär, werdet wie ich!“ Stattdessen aber werdet ihr zu fügsamen Musikbeamten erzogen. Die Akademie handelt auch nicht in Beethovens Sinne, wenn sie dafür sorgt, dass Euer musikalischer Blick nicht über die musikalische Heimatkunde hinaus zur musikalischen Geografie der Welt vorstößt. Sie vergeht sich damit an der Botschaft „Seid umschlungen, Millionen!“ Damit will ich sagen, dass nur die Musik unserer engeren Heimat gelehrt wird, nicht aber die der ganzen Welt, wie es einer wahren Hochschule für Musik zukäme.

Die Akademie belastet Euch im Fach „Musikgeschichte“ mit den Geburts- und Sterbedaten völlig unwichtiger Barock- und Renaissancekomponisten, anstatt Euch zu sagen, worin die wahre musikalische Kraft des Barock- und Renaissancezeitalters gelegen hat: nämlich in der ungeheuren Verbreitung der aus spontaner Begeisterung geborenen musikalischen Improvisation. Sie redet Euch ein, dass das Abspielen von vorgeschriebenen Noten eine größere musikalische Leistung sei, als die schöpferisch- improvisatorische Eigenbetätigung. So erzieht Euch die Akademie zu einer herablassenden und abschätzigen Haltung jenen Musikern gegenüber, die die gegenteilige Ansicht vertreten- besonders dann, wenn sie es wagen, diese auch zu praktizieren- wie zum Beispiel auch ich selbst.
„Aber im Gegenteil“, höre ich einwenden, „Wir schätzen Sie sehr, Herr Gulda; wie schätzen Sie sogar so sehr, dass wir Ihnen den Beethovenring verleihen! Schließlich haben Sie doch auch die Akademie absolviert und einen Wettbewerb gewonnen etc.“
Darauf ist zu antworten: Der Empfänger dieser Ehrung war und ist vielleicht nicht ganz der Unrichtige, aber aus den falschen Gründen ist ihm diese Ehrung zugedacht. Wenn er- innerlich- etwas geworden ist, so wurde er es nicht durch Akademie und Wettbewerbs, sondern trotz dieser.

Ich habe den Eindruck, dass man mich durch die Verleihung des Beethovenringes dazu verhalten will, mich mit den erwähnten Missständen, welche meiner Ansicht nach allesamt einen Verrat an der revolutionären Botschaft Beethovens darstellen, solidarisch zu erklären und diese zu sanktionieren. Nun bin ich zwar auch nur ein Mensch und gewissen Verführungen und Bestechungen zugänglich (wie wir alle)- jedoch nicht, wenn es sich um so ernste Dinge wie die musikalische Erziehung handelt.

Ich könnte Ihnen, meine jungen Freunde- wenn ich so sagen darf- , jetzt und hier ein Minimalprogramm zur Reform des Studienganges an der Staatsakademie für Musik in Wien skizzieren. Dieses Minimalprogramm müsste als wichtigste Punkte enthalten:

1. Die Erweiterung der musikalischen Studien, und zwar in der Form, dass sie nicht nur das Studium unserer europäischen Musik, sondern auch das Studium zumindest der wichtigsten außereuropäischen Praktiken einschließen (z.B. Jazzmusik, indische Musik etc.), kurz gesagt, die Erweiterung der musikalischen Heimatkunde zur musikalischen Geografie. Auf jeder Mittelschule werden Fremdsprachen gelehrt, nur die Hochschule für Musik beschränkt sich auf die Muttersprache.

2. Das intensive Studium der Improvisationspraktiken unserer eigenen musikalischen Vergangenheit unter geeigneten Lehrern. Diese dürften allerdings sehr schwer zu finden sein, da ein bloßes Theoretisieren gerade in dieser Sparte absolut wertlos wäre.

3. Die Reform des Faches Musikgeschichte im vorher erwähnten Sinn.

4. Nicht zuletzt ein paritätisches Mitspracherecht der Studenten bei allen akademischen Entscheidungen, insbesondere, was den Lehrplan betrifft.

Ich sagte, ich könnte Ihnen dieses Minimalprogramm weiter ausführen, wenn mich nicht eine tiefe Skepsis davon abhielte. Diese Skepsis hat mit meiner Überzeugung zu tun, dass im allerstrengsten Sinn, auch mit einer noch so gutwilligen Reformfreudigkeit (von der die Staatsakademie für Musik ohnehin weit entfernt ist) nichts erreicht wäre (ich sage, im allerstrengsten Sinn nichts erreicht wäre) und zwar deshalb, weil jeder revolutionäre Gedanke, sobald er sich in einer Institution niederschlägt, sobald er sich institutionalisiert, eben durch den Akt der Institutionalisierung schon konservativ, oder, wenn sie wollen, reaktionär wird.

Das, was Beethoven ausmacht, was ihn zum Vorbild macht, kann man auf keiner herkömmlichen Schule lernen. Sicherlich, auch er hatte Lehrer, zuerst Neefe, dann- glaube ich- Albrechtsberger, auch Haydn; dass er aber gerade dem größten von Ihnen, nämlich Haydn, nach kurzer Zeit davonlief, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Problematik jedes formellen musikalischen Unterrichts.. Die Frage lautet: „Wollt Ihr die Reform der Schule, oder wollt Ihr ... das Andere, das Richtige,, das Wahre?“- Meine eigene Skepsis bezüglich Reform habe ich Euch dargelegt, doch möchte ich die Entscheidung über diese wichtige Frage gerne Euren internen Diskussionen überlassen. Über eines jedoch sollten wir uns einig sein: dass wir den Auftrag Beethovens nur dann erfüllen, wenn wir dem musikalischen Fortwursteln, wie es leider hierzulande (und nicht nur hierzulande) praktiziert und gelehrt wird, eine radikale Absage erteilen.

Ich wiederhole abschließend, dass ich mich mit der Annahme dieses Ringes in keiner Weise mit den kritisierten Missständen identifizieren mag. Sollte das Komitee zu dem Schluss kommen, dass unter diesen Umständen der Ring einem Würdigeren, beziehungsweise Genehmeren zu verleihen sei- wobei nichts gegen die anderen Träger des Beethovenringes, nämlich des altehrwürdigen Wilhelm Backhaus und die einzigartigen Wiener Philharmoniker gesagt sein soll- so bin ich gerne bereit, ihn jederzeit zurückzugeben. Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr Präsident, und das Komitee, hierüber baldmöglichst zu beschließen.

Meinen jungen Freunden aber, speziell den Preisträgern, möchte ich ans Herz legen, sich mit den von mir angedeuteten Gedanken ernsthaft zu beschäftigen und zu versuchen, sich des großen Auftrages Beethovens würdig zu erweisen.